Einführung in die erstmalige Anwendung der computergestützten Konstruktion im Automobilbau, Anfang der Sechziger Jahre.

 

Teil I:


Ab 1957 rechnete Dr. Alfred Zimmer bei Daimler-Benz räumliche Rahmen in Anlehnung an die in Sindelfingen gebauten PKW-Karosserien. Dies geschah nach einer alten Berechnungsmethode unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln wie Rechenschiebern, elektrischen oder mechanischen Handrechenmaschinen, die im Maschinen- und Bauingenieurwesen damals Stand der Technik war.


Dr. Zimmer hatte zuvor als langjähriger Oberassistent am Lehrstuhl Flugzeugstatik der Technischen Hochschule Dresden gearbeitet. Zur Durchführung seiner damals neuen Berechnungsmethode nützte Dr. Zimmer seine Kenntnisse, die er an der TH Dresden erworben hatte.


Der Quantensprung gelang Dr. Zimmer schließlich mit Hilfe des Computers: Es gelang ihm, sogenannte Stabelemente nach den geometrischen Gegebenheiten der Konstruktion mit allen sechs möglichen Schnittgrößen zu speichern. Ein automatisch laufendes Computerprogramm konnte außer Stäben auch Flächen-, Schalen- sowie Raumgrundelemente durch ihre Konfiguration und Querschnittsdaten genau erfassen. Diese vorgenannte Verfahren zur Berechnung von Scheiben, Platten, Schalen und Raumelementen wurden der Dissertation (1963) von Dr. S. Spierig entnommen. Damit wurde der Grundelementbestand zur Berechnung erweitert und automatisch der Realität verbessert angeglichen.

Ein weiterer Quantensprung von Dr. Zimmer erfolgte damals durch die Steuerung 01 bis 24 für beliebige Rand- und Sonderbedingungen, der sogenannten Matrixsteuerung. Diese Methode wird bis heute angewendet.


Dr. Dirschmid war es im Jahre 1964 zu verdanken, dass die Matrix dann weiter lösbar wurde. Beim Auftauchen ungewollter, unendlich kleiner Beweglichkeiten wurden damals die noch heute im Einsatz befindlichen Verfahren der Gewichts- Steifigkeitsmethode nach der Formänderungsarbeit mit Erfolg erprobt.


Bereits Anfang der sechziger Jahre (1963), war Dr. Zimmers Rahmenberechnungsprogramm rechenfertig und fehlerfrei anwendbar. Dieses Programm erhielt von ihm die Bezeichnung RB. Um die Durchlaufgeschwindigkeit zu erhöhen, wurde die Programmsprache „Assembler“ gewählt.

Zu dieser Zeit wurde dem Berechnungsteam von Dr. Zimmer bekannt, dass Hrennikoff im Jahre 1940 in den USA eine Dissertation „Articulated Framework“ verfasst hatte (damals gab es noch kein Internet).

Der Name FEM wurde für diese Methode zuerst 1960 von den Amerikanern Martin, Topp und Clough vorgeschlagen. Es dauerte jedoch noch über zehn Jahre, bis dieser Name weltweit Verwendung fand.


R. J. Argyris, Professor für Bauwesen und Aeroelastizität, schrieb Anfang der Sechziger Jahre an der TH Stuttgart und in London FEM-Programme für Flächen und Raumelemente, jedoch nicht für Stabelemente, wie es beim RB-Programm schon geschah. Er nannte dieses Programm ASKA und veröffentlichte seine Arbeiten in der Deutschen Gesellschaft für Flugwissenschaften e.V., Band IV von 1965. Erst sehr viel später wurde in ASKA das Zimmer’sche Stabprogramm eingebaut und lief dort unter dem Namen PERMAS.


1963 kam Prof. Peter Groth als Dr. Zimmers erster Mitarbeiter zu Daimler-Benz. Das RB-Programm hatte bei der Berechnung des Rahmenbodens des W 100 (MB 600) nach zehn Stunden Rechendauer zum ersten Mal Messergebnisse derart genau bestätigt, dass die die Messung durchführende Versuchsabteilung von Datendiebstahl ausging. (ATZ 5/2000).

Prof. Groth hatte das Gleichungslösen optimiert und programmiert. Auch besaß er eine besondere Begabung dafür, die XYZ-Grundkoordinaten geschickt festzulegen, um sie der realen Rechenaufgabe jeweils optimal anzupassen. Prof. Groth und Dr. Zimmer entwickelten aus dem RB der Anfangszeit das Nachfolgeprogramm ESEM-Elastostatik Elementmethode. Aus der Dissertation von Dr. Zimmer im Kapitel „Große Verformungen“ wurde das Achsenberechnungsprogramm bereits beschrieben.

In den späteren Jahren wurden von Prof. Groth weitere Nachfolgeprogramme wie das TPNOLI (nichtlineares Achsenberechnungsprogramm gerechnet am großen Maybach 57/M62), TPS 10 und TP 2000 angeboten. Diesbezüglich muss besonders erwähnt werden, dass Schwingungsberechnungen in der technischen Mechanik auf dem Computer simuliert wurden, noch bevor der Auftrag zum Bau eines Produktes erteilt war. Gleiches galt bei der Unfallforschung, nach einem Fahrzeugcrash für Optimierung im Insassenschutz zu sorgen.

Heute laufen die Eingabeprogramme automatisch mit der Erfahrung nationaler/internationaler Verflechtungen. Sie werden durch Erkenntnisse aus der Pionierzeit und Vorgaben aus der immer komplexer werdenden Technik unterstützt. Der Anspruch an heutige Hochleistungsrechner wird somit ständig verbessert und erfüllt! Die Software hat sich seit den Sechziger Jahren nicht grundlegend geändert. Es gibt aber hierfür eine Unmenge an Speicherkapazitäten zu bearbeiten, bis hin zu vorformulierten Ergebnisberichten, die die Programme heute zu leisten in der Lage sind. Im Gegensatz dazu hat sich die Hardware grundsätzlich und grundlegend verändert und weiter entwickelt. Um dies zu illustrieren genügt ein Vergleich der Speicher von früher mit heute. Damals: ein unvorstellbar hoher Stapel von Lochkarten mit dazugehörigen Lochkartenstanzgeräten, Magnetbändern, Plottern, Digitalisierungstischen, Magnetstiften und vielem mehr. Heute verfügen manche Autocomputer über eine dermaßen hohe Speicherkapazität, dass sie die Berechnung einer Mondlandung inklusive Hin- und Rückflug ermöglichen könnten. Anstatt der unhandlichen Magnetstifte gibt es heutzutage ferngesteuerte „Mäuse“ zum Anklicken.


Seinerzeit arbeitete in der Berechnungsabteilung Herrn Biesinger, der Versuche mit selbst aufblasbaren Luftkissen erprobte und zur Serienreife entwickelte. Der erste Airbag war nur mit Raketenzündung einsetzbar, andere Versuche zuvor waren kläglich gescheitert!

Auch im Omnibus bewährte sich ESEM. So stellte Herr Biesinger mit einem Kollegen fest, dass Getriebegeräusche durch Zahnflankenverformungen entstehen. Das Ergebnis waren schließlich geräuscharme Getriebe mit wesentlich längeren Laufzeiten. Die Lebensdauer von Antriebsgelenken wurde erstmalig am Mercedes 600 erprobt. So konnte im Praxistest das im Computer gerechnete Antriebsgelenk eine etwa zehnfach höhere Laufzeit aufweisen. Es wurde auch eine Vielzahl von unterschiedlichen Omnibuskarosserien auf Steifigkeit mit ESEM berechnet.


Dr. Zimmer schrieb 1969 an der TU Clausthal zum Thema „Digitales Verfahren für die wirtschaftliche Lösung von Festigkeitsproblemen und anderen Aufgaben der Elastizitätslehre“ seine Dissertation.


Teil II:


Noch mit dem Rahmen-Berechnungsprogramm RB und dem historischen IBM-Computer 1620 wurden von 1963 bis 1965 die ersten Karosserieberechnungen mit gemischten Grundelementen aus Stab- und Flächenelementen durchgeführt. Dies waren zum einen der Auto-Union F102 und bald danach der erste Audi 100 zu einer Zeit, als die Auto-Union zu Daimler-Benz gehörte(bis 1964).

Der Audi 100 war die große Stunde des Herrn Dr. Dirschmid, der diesen Wagen konsequent nach den Berechnungen mit RB nach der Gewichts-Steifigkeitsmethode durchkonstruierte.

Im Frühjahr 1969 wurde die Berechnungsabteilung unter Dr. Zimmer damit beauftragt, den Wankelsportwagen C111 (W101) mit der ESEM-Entwicklung computerbegleitend zu berechnen.

Man begann mit den Berechnungen an dem Zeitpunkt, als noch keine Zeichnungen vorlagen, sondern nur Vorgaben vom Vorstand existierten. Die Grundidee dieses Fahrzeugs: Es sollte technisch mit Flügeltüren und Überrollbügel sowie einem neuen Antrieb über Drei- oder Vierscheibenwankel als Mittelmotor ausgestattet und per Computer mit ESEM gerechnet werden!

Hieraus entstand ein Wissenschafts- und Werbefilm für Daimler-Benz und das Haus IBM. Daimler wollte damit den Vorsprung der Technik dokumentieren, IBM den Verkauf von Computeranlagen beschleunigen! Beide erreichten damit ihr Ziel.

Der Wissenschaftsfilm mit dem Titel „Das Auto, das aus dem Computer kam“ mit Dr. Zimmer und dem C111 wurde vor ca. 200 Ingenieuren in Cannes gezeigt und in der Kategorie Industriefilm mit dem ersten Preis ausgezeichnet.

Bei der Fahrzeugabholung in Sindelfingen sehen die Besucher noch heute im aktuellen Werbefilm für einige Sekunden den Arbeitsplatz von Prof. Groth, der 1969 im Film gezeigt wurde!


Im Hause Daimler-Benz wurde der Übergang vom RB in das ESEM-Programm durch das Team um Dr. Zimmer laufend verbessert und optimiert. Dies führte zu einem zuverlässigen, fehlerlosen und praxisnahen Programm.

Aufgrund dieser Berechnungen entstanden zahlreiche Serienfahrzeuge, die sich über viele Jahre konkurrenzlos am Markt halten konnten. Hier begannen die langen Lieferzeiten in der Daimler-Benz-Firmengeschichte. Das lange Warten auf einen Neuwagen war beim Kunden gefürchtet, erfreute aber die Jahreswagenbesitzer, die beim Weiterverkauf einen kleinen Gewinn erzielen konnten. Neidvoll und staunend blickten die Konkurrenten auf die Fahrzeuge mit dem Stern.

Dazu zählten in der Anfangsphase der Pagoden-SL W113 E 28, der W115, der Nachfolger W116 bis hin zum Flagschiff 6,9 Liter der S-Klasse. Dieses Fahrzeug wurde als eines der besten und innovativsten Autos der Welt ausgezeichnet! Weitere Serienfahrzeuge reiten sich nahtlos ein wie zum Beispiel der R107, ein Sportwagen, der über 18 Jahre lang konkurrenzlos in Technik, Steifigkeit, Fahrdynamik (gerechnete Vorder- und Hinterachsen) bis hin zum Insassenschutz Geschichte schrieb. Dazu zählen u. a. Sicherheitssysteme wie die verbesserte A-Säule und Crashverformungen, die durch aufwendige Aufpralltests am fertigen Fahrzeug entwickelt wurden.

Diese Technik wurde später am Bildschirm durch CAD-Programme (TPS10) simuliert und kostengünstiger durchgeführt!


Teil III:


Später wurde das Programm zum Aufbau ein-, zwei- und dreidimensionaler FE-Elemente und universell für technische Mechanik eingesetzt: Verformung, Spannungen, Schwingungen, Optimierungen, Formänderungsarbeit pro Gewicht, auch grafisch, Federstützungen mit und ohne Freiweg, schiefe Biegung – all das konnte mit Hilfe des Programms berechnet werden. Dabei waren die Randbedingungen unvorstellbar variierbar. All dies geschah bereits in den Jahren 1963 bis 1969.


Der Begriff Finite-Element-Methode (FEM) kann einfach als Methode der endlich großen Elemente übersetzt werden. Diese erstmals 1960 von R. W. Clough vorgeschlagene Ausdrucksweise wird seit den Siebziger Jahren überall verwendet. Mit der FEM lassen sich nahezu alle Vorgänge der Technik auf dem Computer simulieren. Dabei wird ein beliebiger Körper (gasförmig, flüssig oder fest) in möglichst kleine Elemente einfacher Form (Stab, Dreieck, Viereck, Tetraeder, Pentaeder oder Hexaeder) zerlegt, welche an ihren Eckpunkten („Knoten“) fest miteinander verbunden sind. Kleine Elemente sind wichtig, weil das näherungsweise über lineare Gleichungen formulierte Verhalten der Elemente nur für das unendlich (infinitesimal) kleine Element gilt, die Rechenzeit jedoch endlich große (finite) Elemente verlangt. Die Annährung an die Realität wird umso besser, je kleiner die einzelnen Elemente sind.

(Zitat von Prof. Groth im „Bosch-Taschenbuch 2006“)


Der Vollständigkeit halber möchte ich hier den Altmeister Leonardo da Vinci nennen, der im Mittelalter bei der Berechnung eines Torbogens die FE-Methode (konstruktiv) erkannte!

Der Einsatz der FEM in der Praxis begann in den frühen Sechziger Jahren in der Luft- und Raumfahrtindustrie und sehr bald auch im Fahrzeugbau. Die Methodik basiert auch hier auf den Arbeiten bei der heutigen DaimlerChrysler AG in Stuttgart, die das selbst entwickelte FEM-Programm ESEM einsetzte, lange bevor die computerunterstützte Konstruktion (CAD) Anfang der Achtziger Jahre ihren Einzug hielt.

Mittlerweile findet die Methode in allen Gebieten der Technik einschließlich der Wettervorhersage und Medizintechnik ihre Anwendung. Im Fahrzeugbau bei Kleinteilen über Motor und Fahrwerk bis hin zur Karosserieberechnung einschließlich Crash-Verhalten sowie im Schiffsbau, Flugzeugbau, in der Nanotechnik, im gesamten Maschinenbau- und Bauingenieurwesen und auch im Hoch- und Brückenbau.

Zunehmend ist zu beobachten, dass immer mehr FEM-Lehrstühle an Hoch- und Fachhochschulen sowie am Fraunhofer-Institut zur festen Einrichtung werden.

Für das Großraumflugzeug A 380 standen die besten FEM-Programme zur Verfügung, um das größte Passagierflugzeug technisch in die Luft zu bekommen. Gleiches gilt für die großen Schiffsneubauten, Container-, Tank-, Fahrgastschiffe und dem Großmotorenbau weltweit.

Bis heute sind auch dabei Anteile von der Zimmer’schen Anfangsentwicklung in den Programmen enthalten.



Ich erlaube mir, diesem Artikel ein persönliches Schlusswort hinzuzufügen:


„Die Bedeutung meiner Arbeit Anfang der Sechziger Jahre wurde von mir völlig unterschätzt. Umso mehr freue ich mich heute, dass ich diese Entwicklung als Pionier mitgestalten konnte. Wie ich finde, war die Zeit reif für technische Veränderungen, unsere Arbeitswelt neu zu sehen und mitzugestalten. Die Software mit ihrer damals noch simplen Hardware regte Wissenschaftler über den Globus verteilt gleichermaßen an. Zum Wohle der Menschen wollten sie und ich die Technik begreifbarer und auch ein Stück sicherer machen.“


Mit freundlichen Grüßen

 

Dr. Alfred Zimmer Winnenden, den 24.Februar 2007




Literaturhinweise:


„Elementmethode der Elastostatik“ mit einem gebrauchsfertigen Rechenprogramm auf ESEM-Basis.

von A. Zimmer/P. Groth

erschienen 1970 im Oldenbourg Verlag, München und Wien


Festschrift zum 80. Geburtstag von Dr. Alfred Zimmer.

Zeitschrift ATZ 5/2000


Einführung in die erstmalige Anwendung der computergestützten Konstruktion im Automobilbau, Anfang der Sechziger Jahre.