Die Siamkatzen haben das Auto der Zukunft berechnet

Von Lochkarten und ESEM-Programmen: der 86-jährige Alfred Zimmer aus Winnenden ist ein Pionier der computergestützten Konstruktion

WINNENDEN. Früher hat er anderen gezeigt, wie man Jagdflugzeuge fliegt, später, als Konstrukteur, wie Autos getestet werden können, bevor sie gebaut sind: Alfred Zimmer hat ein Faible für Formeln, Autos und Motoren. Der Ingenieur hat den Automobilbau maßgeblich verändert.

Von Thomas Schwarz

Wenn Dieter Zetsche im Hochhaus des Mercedes-Werks in Untertürkheim die Treppe in der Eingangshalle betritt, die scheinbar frei in der Luft schwebt, braucht sich der Vorstandsvorsitzende des Daimler-Chrysler-Konzerns keine Sorgen zu machen. "Die Treppe hält", sagt Alfred Zimmer schmunzelnd. Er muss es wissen, denn als das Gebäude mit der damals sensationellen Treppenkonstruktion geplant wurde, hat man bei Mercedes in der Entwicklungsabteilung nachgefragt, ob der promovierte Ingenieur seine damals brandneue Methode auch an der Treppe ausprobieren könnte. Alfred Zimmer konnte. Er fütterte den Computer mit den Daten der Treppe, und das Programm, eigentlich entwickelt, um die Belastbarkeit von Autos zu berechnen, bescheinigte der Treppe Stabilität. "Die Statiker waren allerdings außer sich vor Empörung", erzählt der heute 86-Jährige und amüsiert sich noch immer darüber. Denn: seine Berechnungen waren so exakt wie die ihren.

Zusammen mit Peter Groth, der heute Professor an der Technischen Hochschule in Esslingen ist, hatte der gebürtige Dresdener 1963 bei Daimler-Benz begonnen, mit einem von ihm entwickelten Programm Konstruktionsberechnungen mit Hilfe eines Computers vorzunehmen. "Bei Daimler-Benz wurde damals zu meiner Verwunderung völlig unwissenschaftlich gearbeitet, weshalb ich nur von ,der Schmiede' gesprochen habe", sagt Zimmer, für den systematisches Denken und Arbeiten Trumpf ist. Komplexe mathematische Formeln stellt er sich als Landkarten vor. "So kann ich Zusammenhänge leicht erkennen", sagt er.

Während Zimmer erklärt, schreibt er schnell eine Formel auf ein Stück Papier. Der 86-Jährige, dem der Schalk in den Augen sitzt, ist bis auf eine Gehbehinderung und ein Ohrenleiden topfit. Seine Schwerhörigkeit rührt aus dem Zweiten Weltkrieg her. Zimmer war Fluglehrer für Jagdflugzeuge. "Die Motoren waren so laut, dass mit der Zeit ein stechender Schmerz in den Ohren war", sagt er. Mit einem Flugschüler war er bis zu dessen Tod befreundet: Josef Ertl, der von 1969 bis 1982 Bundeslandwirtschaftsminister war. Selbst geflogen ist Zimmer nach dem Krieg nicht mehr. Nur einmal habe er bei einem Rundflug das Steuer übernommen und ein paar Kunstflugfiguren geflogen. "Danach war der Pilot verärgert und ist sofort gelandet", erzählt er und lächelt verschmitzt.

"Es ist im Grunde ganz einfach", meint der 86-Jährige und erklärt dem mathematisch eher unbeleckten Besucher seine Methode. Das Programm funktioniere wie ein Koordinatensystem, in das komplexe Formen eingegeben werden, aufgeteilt in Stab- und Flächenelemente. Ist dieses Abbild zusammen mit den dazugehörenden Materialdaten im Computer erfasst, kann die Konstruktion mathematisch Belastungen ausgesetzt werden, die denen in der Realität entsprechen. Bei Autos gehören dazu neben alltäglichen Belastungen Schäden durch Unfälle.

"Der Computer war ein IBM 1620, groß wie ein Schrank", berichtet Zimmer. Das Elektronengehirn mit 48 000 Transistoren wurde mit Lochkarten gefüttert, seine damals fast unfassbare Kapazität betrug sechs Kilobyte. Für die Berechnung des Rahmens des 230 SL wurden 120 000 Lochkarten benötigt, was einer Speicherkapazität von sechs Megabyte entspricht. "Ohne den Computer ist diese Berechnung in kurzer Zeit unmöglich, die Datenmenge ist zu groß." Dank der Symmetrie mussten nur halbe Autos berechnet werden, was Rechenzeit sparte.

Mit dem Programm gelang es Zimmer und Groth 1963, die Wirkung von Belastungen am Rahmen des Mercedes W 100 so exakt zu berechnen, dass die Versuchsingenieure das Duo bezichtigten, sie hätten Messdaten gestohlen. Nur mit Mühe konnten sie ihre Kollegen davon überzeugen, dass der Computer die Zahlen nach zehn Stunden Berechnung ausgespuckt hatte. Das System funktionierte, und die "Siamkatzen" bauten es aus. Den Spitznamen hatte ihnen ihr Abteilungsleiter Ludwig Kraus gegeben, der spätere Entwicklungschef von Audi und Schöpfer des Audi 100: "Schön anzusehen, aber völlig nutzlos."

Kurz darauf bewiesen die "Siamkatzen", dass sie durchaus von Nutzen waren. Bei der Berechnung der Hinterachse des Mercedes 600 stellten sie fest, dass sie nicht belastbar genug war. Dennoch wurde sie versuchshalber eingebaut. Der Wagen kam bei der Probefahrt bis an das Museum in Untertürkheim, dort brach "erfreulicherweise" für die Computerkonstrukteure die Achse.

ESEM hatte die Feuertaufe bestanden, die "Elasto-Statik-Element-Methode", das weltweit erste Computerprogramm nach der so genannten Finiten Element-Methode (FEM), die heute als Studiengang gelehrt wird. "Es ist den wenigsten bewusst, die heute mit solchen Programmen arbeiten, dass schon in den 60er-Jahren damit begonnen wurde", sagt Zimmer. 1968 und 1969 rechnete das ESEM-Team erstmals ein ganzes Auto durch: den Mercedes C 111, "das Auto der Zukunft".

"Das Auto, das aus dem Computer kam", wurde der Sportwagen mit Wankelmotor auch genannt, von dem nur Prototypen gebaut wurden. Bis heute wirkt das Design des orangefarbenen Boliden modern. Innerhalb eines halben Jahres konnte das Projekt realisiert werden, nur dank ESEM. Das erste in Serie gebaute "ESEM-Fahrzeug" war der Mercedes W 116, bei dem sogar die Figur und das Gewicht der Fahrgäste einkalkuliert wurden.

"Wir verkaufen Autos, keine Programme", lautete jedoch die Meinung des Daimler-Benz-Vorstands, der die Abteilung Zimmers trotz dieser Erfolge als Tochterunternehmen auslagerte. "Ich war furchtbar wütend", sagt Alfred Zimmer. Doch Daimler-Benz sei sein Arbeitgeber gewesen: "Was sollte ich tun?" Er wurde Teilhaber der Firma T-Programm und sorgte mit dafür, dass die von ihm gewonnenen Erkenntnisse in alle Welt verbreitet wurden. Welche Bedeutung das Programm hatte, war nur wenigen klar. Heute wäre ein solcher Vorgang undenkbar.

Bis heute basieren Konstruktiosprogramme auf ESEM. "Wenn heute ein Auto gebaut wird, dann wird es nach dieser Methode berechnet. Deshalb sind sich heute Autos auch so ähnlich, egal welcher Marke", sagt Zimmers Sohn Klaus, der wie sein Vater von Autos begeistert ist und die Geschichte des ESEM-Programms genau kennt.

"Das erfüllt mich schon mit Stolz", gibt der Senior zu, wenn er daran denkt, "der Urahne" dieser Methode zu sein. "Die Anzahl von Crashtests und somit auch deren Kosten konnte halbiert werden." Auf dem Computer kann man ein Auto darstellen und es virtuell gegen ein Hindernis prallen lassen. Danach wird genau dargestellt, wie sich welche Teile dadurch verformen. Auch im Schiffsbau wird seine Berechnungsmethode angewandt und bei der Konstruktion des Airbus 350. Sogar die Stabilität von Prothesen lässt sich damit per Computer messen und verbessern.

Heute lebt Alfred Zimmer in einem Apartment im Haus im Schelmenholz. Nach wie vor fährt er mit dem Auto - einem Mercedes natürlich. "Ein C-Modell, 2,2 Liter. Ich bin sehr zufrieden damit." Und Alfred Zimmer ist viel unterwegs. So war er zusammen mit Peter Groth auch in die Zentrale von Daimler-Chrysler eingeladen. Das Thema des Abends war ihr Programm, das Publikum waren die Konstrukteure des Konzerns. Diese staunten nicht schlecht über ihre beiden Seniorkollegen. Denn dass die beiden Pioniere der computergestützten Konstruktion ihre Vorgänger bei Mercedes gewesen waren, hatten sie bis dahin nicht gewusst.